Im Jahr 2015 schlug eine von Microsoft in Auftrag gegebene Studie hohe Wellen in der Marketing-Branche. Die Aufmerksamkeitsspanne der Probanden in der Untersuchung ist von zwölf Sekunden im Jahr 2000 auf acht Sekunden im Jahr 2015 gesunken. Kunden können sich damit weniger lang konzentrieren als ein Goldfisch. Für das Marketing bedeutet das ganz neue Ansätze und Überlegungen in der Kundenansprache. Doch die Diskussion um die Aufmerksamkeitsspanne ist etwas komplizierter.
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Gesunkene Aufmerksamkeitsspanne als neue Herausforderung im Marketing
Wer sich die technischen und sozialen Entwicklungen über die letzten 15 bis 20 Jahre anschaut, dem wird das Ergebnis der von Microsoft beauftragten Studie nicht wundern. Technische Weiterentwicklungen wie Smartphones und Tablets, das Aufkommen der sozialen Netzwerke und die anstehende verstärkte Digitalisierung der Privat- und Arbeitswelt bringen eine wahre Informationsflut mit sich. Das menschliche Verhalten passt sich dem unweigerlich an.
In der von Microsoft im Jahr 2015 beauftragten Studie wurden Kanadier auf diese veränderten Verhaltensweisen hin getestet. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die Probanden deutlich weniger auf bestimmte Dinge konzentrieren konnten. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist auf acht Sekunden gesunken – 15 Jahre zuvor waren es noch zwölf Sekunden. Mit den acht Sekunden Aufmerksamkeit liegen die untersuchten Personen sogar unterhalb der Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs. Der kann sich angeblich immerhin neun Sekunden auf eine Sache konzentrieren. Durch die ähnliche Lebens- und Konsumweise in anderen westlichen Gesellschaften sind diese Ergebnisse durchaus übertragbar.
Zweifel an diesem Ergebnis der Studie ist angebracht
Ausgerechnet dieses Ergebnis der Studie muss jedoch kritisch betrachtet werden. Die Aufmerksamkeit, die die acht Sekunden Konzentrationsfähigkeit in der Marketing-Branche bekommen hat, war und ist bemerkenswert. Jedoch ist genauso bemerkenswert, wie unkritisch dieses Ergebnis übernommen und weitertransportiert wurde. Dabei muss dieses Ergebnis genauer unter die Lupe genommen werden, was und wie es zu interpretieren ist – oder ob es gar nur ein Heischen um Aufmerksamkeit der Studienersteller ist. Der Vergleich mit dem Goldfisch ist in dieser Hinsicht sicherlich gut gewählt.
Es ist unzweifelhaft, dass sich der Medienkonsum und die Technik deutlich verändert haben. Dadurch werden auch das Verhalten und die Wahrnehmung der Menschen beeinflusst. Die zahlreichen Einflüsse und Reize, die auf die Menschen einwirken, haben sich deutlich verändert und erhöht. Eine Familie vor 20 Jahren besaß vielleicht einen Desktop-PC, der abwechselnd von den Familienmitgliedern genutzt wurde. Heute besitzt jedes Familienmitglied mehrere Geräte, mit denen im Internet gesurft werden kann. Die einzelnen Familienmitglieder wechseln sich nicht mehr an dem einen PC ab, sondern die Besitzer wechseln zwischen ihren Geräten, nutzen sie teilweise gleichzeitig. Zudem sorgen die Menschen für eigenen Content auf den diversen Plattformen und sozialen Netzwerken in einem nie dagewesenen Ausmaß.
Dass sich dies in den Ergebnissen der von Microsoft beauftragten Studie widerspiegelt, ist an sich nicht verwunderlich. Aber insbesondere das Ergebnis zur Aufmerksamkeitsspanne hat doch einige Probleme. Wie bereits andere Studien zuvor verpasst es diese Studie, die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns ausreichend zu berücksichtigen. Fast noch schwerwiegender ist das Ausbleiben einer Definition der Aufmerksamkeitsspanne, was die Autoren der Studie darunter verstehen und wie sie gemessen wird.
Der Goldfisch-Mythos
Dass der Vergleich mit dem Goldfisch selbst nur ein Trick sein könnte, um Aufmerksamkeit zu generieren, zeigt sich an den Nachforschungen zu den betreffenden Daten. Die Daten zur Konzentrationsfähigkeit bei Goldfischen konnte auch das GeneticLiteracy Project nicht verifizieren. Es gibt nur eine australische Studie, die sich zumindest mit einem angrenzenden Thema beschäftigt. Das Erinnerungsvermögen von Goldfischen ist nach dieser Studie ausgeprägt genug, dass sich die Fische über Jahre beispielsweise an eine Futterquelle erinnern. Doch Konzentrationsfähigkeit oder Aufmerksamkeit waren kein Untersuchungsgegenstand. Damit bleibt nicht nachvollziehbar, woher die Daten zur Aufmerksamkeitsspanne von Goldfischen stammen sollen.
Aber auch die Daten zur menschlichen Aufmerksamkeitsspanne sind nicht nachvollziehbar. In der von Microsoft beauftragten Studie wird der Vergleich der Aufmerksamkeitsspannen anhand einer einfachen Infografik dargestellt, die auf eine externe Quelle verweist. Diese externe Quelle, Statistics Brain, müsste zum einen Statistic Brain benannt sein. Zum anderen wird dort selbst wieder auf eine weitere Quelle verwiesen. Diese ursprüngliche Quelle wiederum ist eine Studie von deutschen Wissenschaftlern aus dem Jahr 2008, die zwar Internetnutzung und Aufmerksamkeitsspannen in Verbindung setzt, die zitierten Daten jedoch nicht beinhaltet. Damit sind auch diese Daten nicht verifizierbar.
Die Autoren der von Microsoft beauftragten Studie waren hier also ausgesprochen großzügig in ihrer Darstellung. Dabei muss man explizit erwähnen, dass die genannte Infografik in der Studie selbst nur aufscheint, aber nicht als Ergebnis oder anderweitig Erwähnung findet. Überhaupt wird auch in den Handlungsempfehlungen der Studie keine Ausrichtung an den acht Sekunden Aufmerksamkeit der Konsumenten vorgeschlagen.
Scheinbar wurde die besagte Infografik als wesentliches Ergebnis von anderen Medien aufgegriffen und zu dem Thema unkritisch aufgebauscht, wie es nun im Marketing diskutiert wird. Selbst renommierte Medien wie das TIME Magazine oder die New York Times haben diese Infografik mit dem so anschaulichen Vergleich als zentrales Ergebnis der Studie verkauft. So konnte sich der Goldfisch-Mythos zügig und weitreichend verbreiten, ohne hinterfragt zu werden.
Tatsächlichen Ergebnisse der Studie sind jedoch hochgradig für das Marketing relevant
Doch die von Microsoft beauftragte Studie hat echte, wesentlich relevantere Ergebnisse zutage gefördert. So wurde festgestellt, dass die gestiegene Flut an Informationen für eine verstärkte Fähigkeit zum Multitasking hervorgebracht hat. Weiterhin haben die Probanden gezeigt, dass sie Inhalte schneller auf wichtige Informationen durchsuchen und abspeichern können.
Teilweise erklärbar sind diese Ergebnisse mit dem Trend zum Second Screen. Gut zwei Drittel der Probanden gab an, neben dem Fernsehen noch ein weiteres Gerät wie ein Smartphone oder Tablet zu nutzen. Gleichzeitig leben die meisten Befragten nicht in einer reinen Welt der Kurznachrichten und Emoji-Geschichten. Ebenfalls etwa zwei Drittel der Probanden konsumieren Nachrichten in sozialen Netzwerken, etwa 57 Prozent bevorzugen aber längere Artikel oder Reportagen, also Medien in Langform.
Die Aufmerksamkeitsspanne ist also gesunken, wenn die präsentierten Inhalte als langweilig eingestuft werden. Gleichzeitig können mehr Informationen effizienter aufgenommen werden, der persönliche Filter, um die für einen selbst wichtigen Informationen zu erkennen, ist heute besser. Diese – tatsächlichen – Ergebnisse der von Microsoft beauftragten Studie sind für das Marketing sehr wohl entscheidend.
Lösungsansätze für das Marketing
Die Studie bietet einige Lösungsansätze für die gesunkene Aufmerksamkeitsspanne an. So sollte die Werbung schnell zum Wesentlichen kommen und klar formuliert sein. Ein verstärkter Werbeeffekt lasse sich erzielen, wenn die Werbung Videos, Möglichkeiten der Interaktion oder andere Formen der integrierten Handlungsaufforderung enthält. Inhalte müssen also schneller Aufmerksamkeit erregen und als nützlich wahrgenommen werden.
Wie bisher auch müssen Marketingbetreiber auf einen guten Mix ihres Contents verlassen. Der kurze, knackige Content ist da genauso Bestandteil wie längere, ausführlichere und reichhaltigere Inhalte. Dass Inhalte heute schneller langweilen, bedeutet für das Marketing und die Werbetreibenden eben nicht, nur kurze Werbeinhalte, die in einen Tweet passen, zu präsentieren. Werbung läuft heute nur schneller Gefahr, als uninteressant und irrelevant wahrgenommen zu werden. Wer die Aufmerksamkeit der Kunden genießt, kann sehr wohl mit längerem Content seine Werbebotschaft verbreiten.
Fazit
Die von Microsoft in Auftrag gegebene Studie hat aus den falschen Gründen für Aufmerksamkeit im Marketing-Bereich gesorgt. Die gesunkene Aufmerksamkeitsspanne von Konsumenten, die gar unter der eines Goldfischs liegt, ist nicht nur ein Mythos. Sie ist in der Form gar kein Ergebnis der Studie. Als griffiges Ergebnis ist dieser Vergleich zu Unrecht zu seinem Ruhm gekommen.
Tatsächlich liegt die menschliche Konzentrationsfähigkeit deutlich über der von Fischen. Die Ergebnisse der von Microsoft beauftragten Studie bestätigen dies auch in anderer Hinsicht. Gestiegene Multitaskingfähigkeiten, ein besseres Herausfiltern von relevanten Informationen und weniger Geduld mit neuen Informationen bedeuten für Werbetreibende nicht, ausschließlich Kürzest-Content zu erzeugen. Viel eher sollten sie vermeiden, als uninteressant wahrgenommen zu werden. Ein guter, interessanter Marketingmix wird auf Inhalte unterschiedlicher Länge setzen und auch eine angemessene Aufmerksamkeit der Konsumenten erhalten.